Selbsternannte und anerkannte Psychologen, Lernexperten, Schulreformisten und Walldorf-Schulabgänger, sie alle haben es schon immer gewusst. Jetzt wird auch mir es klar: Wo andere soziale Kompetenzen haben, sitzt bei mir ein durch Frontalunterricht und Erwachsenenbildungsmethoden verkümmertes Häufchen.
Direkt nach dem Mauerfall eingeschult, bedeutete Schule, dass vor der Klasse eine Lehrkraft steht und unterrichtet. Anstelle von Lernspielchen (ala "Wenn du zwei Birnen malst und noch ein mal zwei dazu malst, wie viele Birnen hast du dann?") galt es bei uns Zahlen auf dem Papier oder im Kopf zu addieren. In Gemeinschaftskunde oder Botanik lernten wir, wie Prozesse in der Umwelt funktionieren oder Pflanzen zu pflegen sind. Vielleicht sprachen wir nie mit ihnen, aber oftmals genügten auch Erde, Licht und Wasser um sie wachsen zu lassen. Alles war ja so schrecklich ernsthaft und unspaßig.
Gleichermaßen trist lief meine Sozialisation im Post-Mauerfalls-Deutschland ab. Meine Rabenmutter und -Großmutter schickten mich früh in die Schule und ich blieb dort bis 15Uhr im Hort. Meine sozialen Defizite erklären sich aus den unterbliebenen Spielrunden mit Schulpsychologen vorm Memory-Spielfeld. Statt Konflikte mittels gewalthemmender Kartoffeldrucke auf Tapetenrückseiten zu lösen, jagten meine Schulkameraden und ich uns über den Schulhof, versteckten uns, traten in Gruppen bei - scheinbar gegenwärtig als verroht wahrgenommenen - Wettkämpfen gegeneinander an. Statt mit Farbkleksen auf der Kleidung kehrten meine Mitschüler und ich mit blauen oder Grasflecken heim.
Die Serie von Systemschwächen und Fehlentscheidungen setzte sich auch in meiner Gymnasialzeit fort. Erste soziale Auffälligkeiten wurden sichtbar, als ich mit meinem Freund zusammen Besteck in großer Zahl (und zum evidenten Nachteil aller) in der Schulkantine verbog. Hätte meiner Mutter doch nur schon damals richtig reagiert. Stattdessen stimmte sie jedoch dem Angebot der Schulleiterin, uns das Besteck wieder geradebiegen lassen zu müssen, zu. Weiterer Vorschub wurde meiner sozialen "Entkompetenzierung" und dem Heranreifen meines Ichs als gesellschaftlich nicht integrationsfähig geleistet, als das Besteck unter herzlichem, aber verstehendem Lachen der Essensraumkraft stattfand und dem Ganzen die belehrende Wirkung genommen wurde. Schlimmer noch: Sie war die einzige Person des gesamten Schulsystems mit der wir uns seitdem immer gut verstanden.
Derart sozial verformt: verroht, desintegriert, ohne Empfinden für moralische und soziale Werte begann mein äußerer Aufstieg und innerlicher Verfall. Schnell gelang es mir, per Diktat die gesamte Klasse hinter mich zu bringen und mich als Klassen- und später dann Kurssprecher in Folge wählen zu lassen. Ich störte massiv die Gleichbehandlung Aller, in dem ich der Entwicklung von außerschulischen Sympathieverhältnissen mit der ein oder anderen Lehrkraft aktiv Vorschub leistete und diese (später) dann auch für meine Zwecke nutzte.
Ohne ein besonders differenziertes Empfinden für Gemeinsinn durchlief ich meine Sekundarstufen, wo andere sich im Lösen von Konflikten mittels Händefassens, Liedersingens und Gegenständeertastens im Jutesack übten, konnte ich auf das Wissen meiner Banknachbarn bauen oder aber unbeliebte Aufgaben, wie etwa die Moderation der Abifeier, mit übernehmen. Wir hatten kein elaboriertes Prinzip des gemeinschaftlichen Lernens, des gemeinsamen Feierns mit unseren gleichberechtigten Lehrkräften, es gab keine Stunden, in denen wir beim Basteln von Papiervögeln Spannungen abbauen konnten. Für uns waren Pausen, Lachanfälle und - die wenigen - spannenden Stunden der Schulalltag, an den sich Treffen im Freundeskreis anschlossen. Wir waren Individuen und wurden auch so behandelt und wahrgenommen.
Am längeren Hebel sitzen die selbsternannten und anerkannten Psychologen, Lernexperten, Schulreformisten und Walldorf-Schulabgänger. Unikurse kommen kaum noch ohne Elemente frühkindlichen Spielens und des mir zuletzt aus meiner Kindergartenzeit vertrauten engen Imkreissitzens aus. Die - ihrer Kindheit beraubte Meute? - willigt begeistert auf den, die persönliche Intimsphäre verletzenden Vorschlag ein. Stühle werden in der Mitte des Raumes angeordnet, 10 Teilnehmer rotten sich im Zentrum des Raumes, an dessen Tür man kurz "Krabbelgruppe" zu lesen glaubte, zusammen. Auf dass auch ein Jeder Ellenbogen und Körpergeruch des Nachbarn wahrnehmen und so Teil am neugelebten und mir so unheimlich erscheinenden Gemeinschaftssinn haben möge. Denn echte soziale Kompetenz entsteht, wo nichts anderes mehr geht...
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